OLG Hamm: Zugang einer E-Mail mit PDF-Anhang | 09.03.2022 (Az. 4 W 119/20)

Ein Urteil im Widerspruch zum BGH
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„Wird ein Abmahnschreiben lediglich als Dateianhang zu einer E-Mail versandt, ist es in der Regel nur und erst dann zugegangen, wenn der E-Mail-Empfänger den Dateianhang auch tatsächlich geöffnet hat“ – so lautet der Leitsatz der Entscheidung des OLG Hamm aus dem letzten Jahr.

Der BGH hat erst kürzlich mit Urteil vom 06.10.2022 (Az. VII ZR 895/21) entschieden, dass eine E-Mail, die im unternehmerischen Geschäftsverkehr innerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dem Mailserver des Empfängers zum Abruf bereitgestellt wird, dem Empfänger grundsätzlich in diesem Zeitpunkt zugeht. Auf einen tatsächlichen Abruf der E-Mail oder eine Kenntnisnahme kommt es nach Ansicht des BGH gerade nicht an (zu unserem Artikel: https://www.compliance-insider.com/2022/11/27/bgh-entscheidung-vom-06-10-2022-zum-thema-e-mails-az-vii-zr-895-21bgh/).

Die Entscheidung des OLG Hamm verwundert daher auf den ersten Blick. Denn sie steht – auf den ersten Blick – im Widerspruch zur Auffassung des BGH. Doch was gilt nun?

Zurück zum Anfang: Worum es im Fall des OLG Hamm ging

Das OLG Hamm hatte über die Frage zu entscheiden, ob dem Verfügungsbeklagten eine Abmahnung wirksam zugegangen ist. Nur wenn dies der Fall war, hätte er Anlass für die Antragseinreichung gegeben und könnte sich infolgedessen nicht auf die ihn begünstigende Kostenregelung des § 93 ZPO berufen.

Der Beklagte behauptete, keine Kenntnis von der E-Mail zu haben. Die E-Mails müssten im Spamordner gelandet sein. Seine Unkenntnis machte der Beklagte durch eine eidesstattliche Versicherung glaubhaft. Die als Anhang beigefügte Abmahnung sei ihm also nie zugegangen.

Das OLG Hamm folgte ihm: Die Abmahnung sei dem Verfügungsbeklagten nicht wirksam zugegangen. Dies wäre nur und erst mit Öffnung des Dateianhangs in der E-Mail der Fall gewesen. Auf Seiten des Verfügungsbeklagten bestehe wegen des allgemeinen Virenrisikos keine Pflicht, Anhänge von E-Mails unbekannter Absender zu öffnen.

OLG Hamm Entscheidung im Widerspruch zum BGH?

Zunächst ist klarzustellen, dass die den beiden Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalte nicht vollständig identisch sind. In dem vom BGH zu entscheidenden Fall ging es um den Zugang einer E-Mail an sich, d.h. die im direkten E-Mail-Text enthaltenen Willenserklärung. Das OLG Hamm hatte indes darüber zu entscheiden, wann eine im Anhang einer E-Mail verkörperte Willenserklärung dem Empfänger zugeht.

Voraussetzungen des Zugangs

Grundsätzlich gilt: Eine Willenserklärung ist dann zugegangen, wenn sie so in die Sphäre des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter gewöhnlichen Umständen von ihr Kenntnis nimmt.
Für den E-Mail-Verkehr ist dies dann anzunehmen, wenn die E-Mail auf dem Mailserver des Empfängers zum Abruf bereitgestellt wird (BGH 06.10.2022, Az. VII ZR 895/21).

Wie sich bereits den oben genannten Voraussetzungen entnehmen lässt, ist bei der Frage des Zugangs einer Erklärung sowohl beim Brief- als auch beim E-Mail-Verkehr stets auf die „Kenntnisnahmemöglichkeit unter normalen Umständen“ abzustellen.

Im Fall des OLG Hamm ging es also konkret um die Frage, wann bei einem E-Mail-Anhang von dessen „Kenntnisnahmemöglichkeit unter normalen Umständen“ auszugehen ist.

Keine Kenntnisnahmemöglichkeit

Das OLG Hamm lehnt zusammen mit einer weit verbreiteten Meinung in der Literatur die grundsätzliche Kenntnisnahmemöglichkeit bei einem E-Mail-Anhang ab. Einerseits sei dem Empfänger nicht zuzumuten, stetig über die aktuelle, teils kostenpflichtige Software zum Öffnen aller möglichen Dateiformate zu verfügen (z.B. PDF). Andererseits könne vom Empfänger aufgrund der Virengefahr nicht erwartet werden, dass er den Dateianhang öffne.
Folglich gehe die im Anhang verkörperte Willenserklärung erst und nur dann zu, wenn der Anhang tatsächlich geöffnet wird und so Kenntnis vom Inhalt des Anhangs genommen wird.

Kenntnisnahmemöglichkeit

Andere Stimmen in der Literatur vertreten demgegenüber die Ansicht, der Empfänger könne stets unter normalen Umständen Kenntnis vom Inhalt der im E-Mail-Anhang verkörperten Willenserklärung nehmen, nachdem diese abrufbar in seinem Postfach gespeichert worden ist. Einer Virengefahr könne der Empfänger mit etwaigen kostenlos zur Verfügung stehenden Virenscanner begegnen.

Bewertung

Gegen die erste Ansicht spricht, dass die zum Öffnen dieser Dateianhänge benötigten Programme mittlerweile zur Standardausrüstung eines jeden Computers gehören oder zumindest als Freeware verfügbar sind. Das Öffnen von PDF-Dateien erfordert beispielsweise überhaupt keine Software mehr; die Dateien können problemlos über den Browser geöffnet werden. Stellt man also auf die Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs ab, kann der E-Mail-Empfänger unter normalen Umständen ohne technische Probleme Kenntnis vom Inhalt eines Anhangs nehmen – zumindest für Anhänge im üblichen Format, etwa im PDF-Format.

Ferner stößt die Auffassung auf systematische Bedenken, da der Gesetzgeber den elektronischen Rechtsverkehr fördern will. Unter Zugrundelegung der erst genannten Ansicht wäre eine rechtssichere rechtsgeschäftliche Kommunikation mittels E-Mail-Anhängen faktisch nicht mehr möglich: Da eine Willenserklärung nur bei tatsächlicher Kenntnisnahme des Empfängers als zugestellt gilt, müsste der Erklärende beweisen können, dass der Empfänger tatsächlich vom Inhalt des E-Mails-Anhangs Kenntnis genommen hat. Dieser Beweislast wird der Erklärende nur im Ausnahmefall nachkommen können.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht richtig sein, dass sich der E-Mail-Empfänger mit einem pauschalen Verweis auf ein “allgemeines Virenrisiko” der Verantwortung einer im Zweifel durch ihn selbst geschäftlich eröffneten Kommunikations- und Empfangsmöglichkeit entziehen kann.

Allerdings kann bei der Frage der Kenntnisnahmemöglichkeit die Virengefahr, die von einem E-Mail-Anhang ausgeht, nicht unberücksichtigt bleiben. Immerhin kann durch das Öffnen eines E-Mail-Anhangs ohne Zutun, Wissen und Willen des Empfängers ein Schadprogramm ausgeführt werden und zu einem großen Schaden führen. Angesichts dessen ist dem E-Mail-Empfänger nicht zumutbar, jeden Dateianhang öffnen zu müssen, damit er Kenntnis vom Inhalt des Anhangs erlangen kann.

Im Ergebnis scheidet deshalb eine pauschale Bewertung aus. Vielmehr bedarf es einer differenzierten Betrachtung der konkreten Umstände und einer Abwägung der Interessen im Einzelfall. Ausgangspunkt einer solchen Bewertung ist die Annahme, dass der Empfänger nur dann mit den Wirkungen der im Anhang verkörperten Willenserklärung belastet wird, wenn die Virengefahr im konkreten Fall auf ein zumutbares Maß reduziert werden kann.

Umstände, welche für die Bewertung des Einzelfalls herangezogen werden sollten, können unterer anderem sein:

  • Hat der Erklärende ein gebräuchliches und für die Übermittlung geeignetes Dateiformat verwendet (etwa PDF und TXT)?
  • Hat der Empfänger dem Erklärenden seine E-Mail-Adresse zur rechtsgeschäftlichen Kommunikation zur Verfügung gestellt (z. B. Angabe der E-Mail bei einer Online-Bestellung oder auf einem Geschäftsbrief)?
  • Hat die E-Mail und der Dateianhang bei einem objektiven Empfänger nicht den Eindruck erweckt, dass er unseriös und möglicherweise schädlich ist (z. B. durch eine kryptische Titulierung des Dateianhangs)?

Bedeutung für die Praxis

Aufgrund der im Einzelfall vorhandenen Beweisproblemen ist Unternehmen derzeit davon abzuraten, rechtlich relevante Erklärungen in einem E-Mail-Anhang zu versenden.

Greifen Unternehmen dennoch auf diesen Kommunikationsweg zurück, sollten sie das Beweisrisiko dadurch verringern, dass der Text des Abmahnschreibens bzw. die Willenserklärung in die E-Mail-Nachricht selbst mit aufgenommen wird – und eben nicht (nur) im Anhang zu finden ist.


Quellen
  • BGH Urteil, https://openjur.de/u/2454140.html
  • OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2022 – 4 W 119/20 
  • Hengstberger, Zugang von Willenserklärungen in E-Mail-Anhängen, NJW 2022, 1780
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